Suche

Medizin statt Bürokratie!

Patient statt PC

PC statt Patient: Das ist die Realität in Schweizer Spitälern. Gerade junge Ärztinnen und Ärzte sitzen heute mehr im Büro als am Krankenbett. So nicht, sagt der vsao. Mit der Kampagne «Medizin statt Bürokratie!» und dem dazugehörigen Handbuch will er Lösungen fördern – konstruktiv und konkret.

Der Startschuss für «Medizin statt Bürokratie!» fiel im August 2017. Im ersten Schritt richtete sich die Kampagne speziell an Spitäler und Weiterbildungsstätten. Das Ziel: sensibilisieren. Eine Broschüre erklärte, wie sich Schreibtischarbeit verringern lässt – zum Nutzen der Patientinnen und Patienten und auch der Finanzen. Denn weniger Administration heisst weniger Kosten. Zudem illustrierte ein Leiterspiel leicht augenzwinkernd den bürokratischen Hürdenlauf von Ärztinnen und Ärzte auf dem Weg ans Spitalbett.

Lösungen standen ab September 2018 im Mittelpunkt der zweiten Kampagnenwelle. Der vsao hatte drei Spitäler ausgewählt, unter Anderem das Kantonsspital Aarau, um konkret zu zeigen, was diese tun – und vor allem: dass man etwas tun kann. Während der Herbstsession fand auch ein Informationsanlass im Bundeshaus statt. Dort also, wo Entscheide fallen, die oftmals zu noch mehr Bürostunden führen.

In der dritten Etappe hat der vsao basierend auf Erfahrungen aus den zwei Pilotprojekten am Kantonsspital Aarau und aus Fribourg ein Handbuch erarbeitet. Dieses liefert konkrete Handlungsvorschläge, wie ein Projekt zur Bürokratie-Reduktion erfolgreich durchgeführt werden kann. Das ist möglicherweise der einfachste Weg, um die Effizienz eines Spitals zu steigern und gleichzeitig die Arbeitszufriedenheit der Ärztinnen und Ärzte wie auch die Behandlungsqualität zu erhöhen. Damit steht ein niederschwelliges Werkzeug zur Verfügung, mit dem effektiv Bürokratie reduziert werden kann. Der vsao unterstützt auch direkt jedes von Mitgliedern durchgeführte Projekt.

Handbuch «Medizin statt Bürokratie»

Das Handbuch besteht aus neun Dokumenten. Diese dienen als Grundlage für den Projektprozess; jedes Dokument deckt einen anderen Teil des Gesamtablaufes, der im Wesentlichen aus nur vier Schritten besteht, ab. Am besten lesen Sie zu Beginn das Handbuch durch und überfliegen kurz alle Dokumente.

  1. Das Handbuch: dieses beschreibt den Hintergrund, die Ausgangslage und den Ablauf des Prozesses und zeigt das grobe Vorgehen auf.
  2. Das Konzept: das Konzept erklärt die Grundidee, Vorgehensweise und Organisation des Projekts und wird als Erstes dem Spital vorgestellt. Dabei sollte gemeinsam eine Projektleitung definiert werden. 
  3. Der Fragebogen IST-Situation: mit dem Fragebogen wird der Ist-Zustand erfasst sowie Lösungsvorschläge und das Optimierungspotenzial gesammelt. Dieser richtet sich an die Ärzt:innen. 
  4. Die Auswertung IST-Situation: auf Basis des Fragebogens zeigt die Auswertung das Ausmass des Problems in Form von Grafiken und Tabellen auf. 
  5. Die Präsentation der Situationsanalyse: mit dieser Analyse wird die detaillierte Ausgangslage präsentiert und das Verbesserungspotenzial in verschiedenen Feldern aufgezeigt.
  6. Der Workshop: während des Workshops werden Ideen für die Probleme ausgearbeitet.
  7. Die Ideensammlung: in der Ideensammlung werden die gesammelten Ideen als konkrete Projektsteckbriefe aufgearbeitet.
  8. Der Fragebogen Erfolgsmessung: mit dieser Umfrage wird nach der Umsetzung erster Massnahmen gemessen, ob die Änderungen Erfolg zeigen und es wird Feedback gesammelt.
  9. Die Auswertung Erfolgsmessung: mit den Antworten der Umfrage werden die Resultate in Grafiken und Tabellen aufgezeigt.
  10. Der Projektabschluss: am Schluss werden die Resultate des Projekts präsentiert.

Beratung und Kontakt

Ein solches Projekt in einem Spital zu lancieren und umzusetzen, ist gar nicht so einfach. Das Handbuch wurde anhand von zwei Praxisbeispielen erstellt, welche vom vsao begleitet wurden. Trotzdem ist jedes Spital anders und es können überall neue Fragen und Schwierigkeiten auftreten. 

vsao-Mitglieder, welche ein «Medizin statt Bürokratie» Projekt lancieren, dürfen eine kostenlose, halbstündige professionelle Beratung in Anspruch nehmen. Auch wenn Sie nur kleine Fragen und Unsicherheiten haben, freuen wir uns über Ihre Kontaktaufnahme via .

Weitere Lösungen, Fakten und Zahlen

Doch, man kann was tun! Denn oft braucht es wenig, um viel zu verbessern. Drei Spitäler zeigen, wie sie bei der Bürokratie Zeit zugunsten der Medizin zurückgewinnen. Der vsao setzt sich dafür ein, dass diese und andere Beispiele Schule machen. 

Durch die Kampagne entstand Anfang 2018 eine Arbeitsgruppe zum Thema «Medizin statt Bürokratie!». Das reorganisierte Sekretariat der Abteilung Innere Medizin übernimmt nun versuchsweise zusätzliche Aufgaben. Etwa beim Diktieren: Die Mitarbeiterin prüft die auf Band gesprochenen Krankenberichte. Bei Bedarf ruft sie die Hausärztin der Patienten an, um Zusatzinformationen einzuholen. So werden den jungen Ärzten Bürden abgenommen – und für das Team im Sekretariat die Aufgaben interessanter.

«Reduce to the max» heisst eine Arbeitsgruppe in der Medizinischen Klinik. Sie holt über die Assistenzärzte Verbesserungsvorschläge ein und klärt ab, ob sich diese realisieren lassen. Umgesetzte Massnahmen werden überprüft. Eine bereits bewährte Neuerung: Die Assistenzärztin kann sich von extern angeforderte Unterlagen per E-Mail ins Sekretariat übermitteln lassen. Dort werden sie direkt ins Informationssystem der Klinik eingespeist – der Umweg zuerst über die Ärztin entfällt.

Zudem gibt es für die Patientenbetreuung spezielle Coaches: diplomierte Pflegefachfrauen, welche die Entlassung planen, Gespräche koordinieren und den Informationsfluss gewährleisten. Die Coaches sind mit den Assistenzärztinnen auf der Abteilung. Dadurch besteht ein enger Kontakt und Austausch, auch bei der Chefarztvisite und Entscheiden. Im Weiteren finden Qualitätszirkel statt, um Projekte interdisziplinär zu bearbeiten und sie allen Mitarbeitenden vorzustellen. Zu nennen ist etwa die Vereinfachung von Rezepten und das Erfassen der Medikamente beim Spitaleintritt.  

In Graubünden hat man die Durchlaufzeiten bei der Erstellung der Berichte in der Chirurgie, Gynäkologie und Geburtshilfe untersuchen lassen. Ergebnis: Bis zur Freigabe eines Austrittsberichts dauerte es 13,5 Tage – für das Verfassen dagegen genügten 40 Minuten. Bei der Analyse durch die Firma Leancom GmbH stachen die vielen Schnittstellen, Rückfragen sowie Genehmigungs-, Prüf- und Nacharbeitsschleifen ins Auge.

Deshalb wurden die Wege visualisiert, Informationsflüsse aufgezeichnet, Bestände gezählt und das Geschehen beobachtet. Die Lösung war dann weder ein IT-Projekt noch ein neues System. Viel simpler: Es gab neue respektive digitalisierte Diktaphone, und die Mitarbeitenden nutzen die Infrastruktur effizienter und sinnvoller. Zusätzlich profitieren sie von einfacheren Abläufen und weniger Schnittstellen.

Um den Fokus der Assistenzärzt:innen im Sinne der Kampagne Medizin statt Bürokratie wieder vermehrt weg von den administrativen Aufgaben auf die medizinischen Belange der Patienten zu lenken, wurde in der Arbeitsgruppe am Kantonsspital Aarau in enger Zusammenarbeit mit dem Stationssekretariat der Aufgabenbereich der Stationssekretär:innen neu definiert und eingeführt. Das vermehrte Schulen auf dem hausinternen Diktiersystem, die Übernahme von administrativen Tätigkeiten wie das Einholen von Berichten und Befunden, Schreiben von diktierten Verläufen und Berichten, Koordination von Rehabilitation und ambulanten Terminen nach Austritt, sowie das Abgeben des Telefons während der Visite haben zu einer Entlastung der Ärzteschaft geführt und die gute Zusammenarbeit mit dem Stationssekretariat gestärkt.

Im Spital Linth wurde angesichts der hohe Belastung eine Entlastung der Assistenzärzt:innen durch personelle Umstrukturierung erreicht. Dabei wurden sogenannte Medizinische Stationsassistent:innen (MSA) eingeführt. Nach einer anfänglichen Pilotphase wurden diese mittlerweile in allen Stationen eingeführt und positive Erfahrungen gemacht.

Die MSA bewegen sich in einer Schnittstelle zwischen Ärzt:innen, Pflege und Administration und entlasten das Personal bei deren Aufgaben. Auf Delegation durch die Ärzteschaft übernehmen diese verschiedene Administrative sowie Dokumentations-Aufgaben wie die Prüfung von Eintrittsberichten, die Bestellung von Unterlagen und Dokumentation im Spitalsystem. Dadurch konnten die Ärzt:innen ca. 30-40min pro Tag einsparen und mehr Zeit am Patient verbringen. Im Merkblatt für Ärzt:innen  sind weitere Informationen nachlesbar. 

  • Inselspital Bern, Allgemeine Innere Medizin: Care-Koordinatorinnen sind mit am Patientenbett, begleiten die Visite und nehmen Aufträge direkt von den Ärzten entgegen.
  • Inselspital Bern, Notfallzentrum: ecare ist ein benutzerfreundliches und zeitsparendes IT-Programm, das mehrere Funktionen beinhaltet – zum Beispiel ein Scanning-Tool oder eine Diktierfunktion für alle Computer. Es wird zudem stetig erweitert.
  • Universitätsspitäler Genf (HUG), Pädiatrie: digitales Diktieren/Stimmerkennung.
  • Spital Zollikerberg: Interprofessionelle Anamnese – Ärzte und Pflegepersonal nutzen eine gemeinsame Plattform für die Patientendaten. Dies erspart mehrfache Abklärungen und verhindert Wissenslücken.
  • Kantonsspital Graubünden, Notfallstation: Mit der Software-Plattform sublimd wird die Krankheitsgeschichte nur einmal erfasst und ist jederzeit für das medizinische Fachpersonal einsehbar. Das spart Zeit am Schreibtisch, die den Patienten zugutekommt.
  • Tiefenauspital Bern, Orthopädische Klinik: Klinische Fachspezialisten (KFS) entlasten die Assistenzärztinnen von Routineaufgaben wie Patientenanmeldungen und Terminabsprachen. In einer zweiten Phase sollen dann auch medizinische Aufgaben zum Pflichtenheft gehören.
  • Bürgerspital Solothurn, Chirurgische Notfallstation: Medical Scribes sind Medizinstudierende ab dem dritten Ausbildungsjahr, die Assistenzärzte zu Randzeiten bei der Arbeit begleiten. Diese können ihren «Schreibern» Arbeiten wie die Dokumentation des Arzt-Patienten-Gesprächs abgeben.
  • Luzerner Kantonsspital, interne Abteilung Berichts- und Anfragemanagement: Diese bearbeitet medizinische Anfragen der Krankenkassen sowie der Unfall-, Zusatz- und Invalidenversicherung. So können pro Jahr über 50’000 Fälle behandelt werden.

Dass Spitalärzte zu viel Zeit mit Bürokratie verbringen, ist nicht nur eine Behauptung. Studien belegen den Trend mit Zahlen und Fakten — und auch die Folgen. Eine Auswahl.

Schweiz

Studie: Der administrative Aufwand in den Spitälern
(im Auftrag der FMH)
gfs.bern, 2019

Arbeitsbelastung der Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte: Mitgliederbefragung 2022 Management Summary
(im Auftrag des vsao)
DemoSCOPE, Adligenswil, 2022

Sparen: zuerst bei den Strukturen, zuletzt bei den Patienten
Jürg Schlup, Schweizerische Ärztezeitung, 21. Februar 2018

Begleitstudie 2017 anlässlich der Einführung von SwissDRG, TARPSY und ST Reha
(im Auftrag der FMH)
gfs.bern, 2018

Entwicklung der Anstellungsbedingungen
Thomas Eichenberger, Schweizerische Ärztezeitung, 4. Oktober 2017

Assistenzärzte: 90 Minuten am Patientenbett
The “Rösti”-Study: a time motion study comparing the allocation of time of internal medicine residents in two Swiss hospitals
Spitäler Baden und Lausanne, 2017

Allocation of Internal Medicine Resident Time in a Swiss Hospital:
A Time and Motion Study, the Médical Day (MeDay) Study
Wenger Nathalie, Universität Lausanne, 2017

International

«Überlastung führt zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen»
MB-Monitor 2019, Marburger Bund, Berlin

Befragung junger Angestellter in Krankenhäusern — vorläufige Ergebnisse des Forschungsprojektes
BGW-Forschung, Hamburg, 2018

Beyond Burnout — Redesigning Care to Restore Meaning and Sanity for Physicians
Wright Alexi A./Katz Ingrid T., The New England Journal of Medicine, 25. Januar 2018